ARCHITEKTUR: «Wir schaffen Wohnräume, die vielseitig nutzbar sind»

Mit ihrem Entwurf gewann das Architekturbüro Knapkiewicz und Fickert den Wettbewerb für die GWG-Siedlung Vogelsang. Was die grosse Herausforderung ist und was den Reiz des Projekts ausmacht, erklärt die aus Winterthur stammende Architektin Kaschka Knapkiewicz im Interview.

 

Frau Knapkiewicz, die Ausgangslage für die neue Siedlung Vogelsang war keine einfache: Steilhang, Höhenbeschränkung, Lärmbelastung, die schmale Kantonsstrasse – worin sahen Sie das Potenzial? 
Wohnungsbau beschäftigt uns seit langem. Während die Generation unserer Eltern auf dem Land ihr eigenes Einfamilienhaus bauen wollte, fragten wir uns: Wie kann man heute in der Stadt lebenswerte Wohnungen bauen? Der Wohnungsbau allgemein ist seither für uns das Kernthema. Eine grosse Wohnsiedlung wie den Vogelsang gestalten zu können, reizt uns darum sehr.
Zunächst einmal: Die Lage des Vogelsangs ist toll! Das Grundstück liegt, von Zürich her kommend, am Eingang der Stadt. Auf der Rückseite gibt es eine Einfamilienhaussiedlung und Schrebergärten, daneben beginnt der Wald – eine kleine Welt für sich. Im Gegensatz dazu versprüht vorne das riesige Gleismeer urbanen Charakter, man hat guten Weitblick. In diese kontrastreiche Umgebung etwas Stimmiges dazwischenzusetzen war eine attraktive Herausforderung für uns.
Sie wählten dafür eine Art Wabenstruktur, platzieren die Häuser etwas verschachtelt. Was inspirierte Sie dazu? 
Ein grosses Gefüge wie den Vogelsang muss man ganzheitlich denken. Heute werden kaum mehr die öffentlichen Räume, die Zwischenräume, Strassenzüge oder Plätze betrachtet. Entworfen und gestaltet wird nur das Objekt, das Haus. Neubauten sind darum oft massstabslose, nebeneinandergereihte, primadonnenhafte Einzelobjekte; Boxen mit ein paar Löchern. Wir jedoch glauben immer noch an den klassischen Städtebau: Wir sind überzeugt, dass man zuerst die öffentlichen Räume schaffen muss, damit stimmige Privaträume gelingen. Deshalb fangen wir zunächst mit der Gestaltung des gemeinschaftlich nutzbaren Aussenraumes an. Aus dem heraus entwickeln wir das Private, die einzelnen Wohnungen. Dabei arbeiten wir mit Analogien aus dem Fundus bestehender Bautypen. Zuerst versuchten wir es beim Vogelsang mit versetzten Riegeln, doch der dadurch entstehende Zwischenraum parallel zu Strasse und Gleisen bot keine angenehmen abwechslungsreichen Aussenräume, und löste daneben das Lärmproblem nicht. Also entschieden wir uns für eine Form mit Höfen, ähnlich wie wir sie in den herrschaftlichen französischen Stadthäusern – sogenannten «Hôtel Particuliers» – des 17. und 18. Jahrhunderts finden.
Wie muss man sich diesen Typ der französischen Stadthäuser vorstellen? 
Das ist ein klassischer, in Paris verbreiteter Bautyp. Da der Adel wieder vom Land in die Stadt zum Wohnen kam, mussten dafür spezielle Gefässe entwickelt werden. Die ersten Paläste, die in der Stadt gebaut wurden, hatten einen ein- oder zweigeschossigen Vorbau mit Nebenräumen, Ställen, oder «Garagen». Dieser war gegen die Strasse hin geschlossen, ein Tor führte zum Innenhof. Dahinter lag, lärmgeschützt, das eigentliche «Palais» für die Herrschaft, mit rückseitig orientierten Schlafzimmern in Richtung Garten.
In diesem Bautyp fanden wir Inspiration für die Siedlung Vogelsang, die vorne durch die Lage an der Strasse und hinten durch die Lage am Steilhang mit rückseitigen Gärten geprägt wird. Wir schufen eine daran angelehnte Form mit Höfen – Höfe einerseits gegen die Strasse, lärmgeschützt durch dreigeschossige Vorbauten, und andererseits rückwärtige Höfe, die sich gegen den Hang in Richtung Osten öffnen. Die Höfe sind achteckig und bilden mit dieser Geometrie eine Art Wabenstruktur, die nun den ganzen Hang geschmeidig überzieht und eine prägnante, bewegte Silhouette an der weithin sichtbaren Stadtkante erzeugt.

 

Innerhalb der Siedlung wird damit jede Wabe zu einer kleinen Welt zwischen Schrebergartensiedlung und Gleismeer. Wie beeinflusste die Umgebung die Materialwahl?
Die Basis ist eine Promenade auf einem Hochtrottoir mit Hauseingängen, Aufgängen zu den Höfen und Keller- und Veloabstellräumen in lasiertem Beton, der teils mit Spalieren bewachsen sein wird. In den drei Geschossen darüber verbauen wir Backsteine zum soliden und verputzten Mauerwerk. In den oberen Geschossen verwenden wir an der Fassade eine Holzschalung, die auch Balkone und Lauben umhüllt. Im Gesamten überwiegen die Farben Ocker und Grün. Dies ist eine Referenz auf die Gartenstadt und die grüne Umgebung. Von der Stadt her betrachtet dominieren die massiven Sockelgeschosse – vom Hang und den Gärten her die hölzernen Obergeschosse.
Sie sind selber in Winterthur aufgewachsen. Damals war Winterthur noch eine Industriestadt. Wie baut es sich in Ihrer Heimatstadt? 
In meiner Jugend erlebte ich die Stadt als sehr beengend und ergriff die Flucht nach Zürich. Doch seither hat sich viel gewandelt: Auch dank der ZHAW ist Winterthur heute zu neuem Leben erwacht. Es leben mehr jüngere und vielseitig interessierte Menschen da, es ist mehr möglich und gibt tolle Nischen. Wir realisierten bereits mehrere Bauten in Winterthur, unter anderem die Wohnüberbauung «Lokomotive» (Fotos oben) auf dem ehemaligen Sulzerareal. Aus architektonischer Sicht ist Winterthur mit seinen Industriebauten ein interessantes Pflaster.

 

Ihr Werk zeichnet sich bisweilen durch den Reiz aus, Regeln zu brechen. Sie scheinen eine Freude am Widersprüchlichen zu haben, am Spiel mit Zitaten. 
Das stimmt. Die einzigen Regeln, an die wir glauben, sind Geometrie, Proportion und Massstab. Deshalb ist es uns beispielsweise wichtig, schön gefasste und gut proportionierte Räume zu schaffen mit oft nicht zu grossen Fenstern, um die Raumhülle nicht zu zerstören. Wir finden, dass Wohnungen heute neutraler sein sollten, ohne funktionelle Einteilungen in Küche, Bad, Eltern- und Kinderschlafzimmer. Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass ein Esstisch Platz findet. Aber die Leute müssen die privaten Räume nach eigenen Bedürfnissen einrichten können. Wir schaffen lieber Wohnräume mit Nischen, wo vieles möglich ist und die Übergänge zwischen Gemeinschaftlichem und Individuellem fliessend sind. Das Leben verändert sich und wir möchten es den Bewohnern und Bewohnerinnen ermöglichen, ihr eigenes Leben in ihren Wohnungen zu finden.
Interview: Katharina Flieger, freie Journalistin
Bilder: Knapkiewicz & Fickert AG

Über Knapkiewicz & Fickert

Axel Fickert (*Hof 1952) und Kaschka Knapkiewicz (*Winterthur 1950) gründen ihr gemeinsames Büro 1992 in Zürich. Beide haben an der ETH Zürich diplomiert und dort als Assistenten und Gastdozenten (A. Fickert 1996-2002, K. Knapkiewicz 1999, ETH Lausanne 2002-2003) unterrichtet. Beide lehrten bis Sommer 2017 an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur.
Der Wohnungsbau bildet von Beginn an einen Schwerpunkt ihrer gemeinsamen Arbeit und sie spezialisieren sich schon früh darauf, immer wieder neue Themen darin zu finden. In den letzten Jahren vertiefen sie in Büropraxis und Lehre vermehrt städtebauliche Themen, die in Bauten wie z.B. der Wohnsiedlung «Klee» (Bild oben) und den Projekten «Hornbach» und «Vogelsang» ihren deutlichen Ausdruck finden. Immer wieder arbeiten sie in Arbeitsgemeinschaften zusammen mit befreundeten Architekturbüros, wie Meili, Peter & Partner Architekten AG (Perrondächer des Hauptbahnhofs Zürich), Miller & Maranta (Resort Andermatt) und Miroslav Šik (Gartensiedlung Frohburg, Zürich).
Für ihr gemeinsames Werk erhalten sie 2005 vom Bundesamt für Kultur den Prix Meret Oppenheim und 2010 die Schelling Medaille der Schelling Architekturstiftung in Karlsruhe. Auch mehrere ihrer Bauten werden ausgezeichnet, unter anderem der Busterminal Rütihof mit dem Prix Acier und die Wohnsiedlung Klee mit dem Ersten Zürcher Genossenschaftspreis und dem Preis für gute Bauten der Stadt Zürich. Im Moment planen sie mehrere Wohnsiedlungen in Zürich und Winterthur.